Beratungsverständnis
der Deutschen Gesellschaft für Beratung (DGfB)4Die DGfB versteht sich als Dachverband professioneller Beratung. Sie vernetzt und repräsentiert Praktiker*innen, Ausbilder*innen und Forscher*innen. Die Positionen der DGfB werden als orientierende Expertise von Beratungsklient*innen, Fachöffentlichkeit, allgemeiner Öffentlichkeit sowie all jenen abgerufen, die gesellschaftlich handeln und dabei Unterstützung brauchen. Die Deutsche Gesellschaft für Beratung e.V. (DGfB) gründete sich im Jahr 2004 als Ergebnis eines offenen Koordinierungsprozesses diverser Beratungsakteure: Von der Berufsberatung bis zur Erziehungs- Ehe- und Familienberatung, von der Suchtberatung bis zur betrieblichen Sozialberatung, von Supervision und Coaching bis zur Organisationsberatung. Als Dachverband von derzeit 21 Fach- und Berufsverbänden repräsentiert sie heute über 25.000 aktive Berater*innen in Deutschland. Die DGfB ist so zum führenden Verband für professionelle Beratung im deutschen Sprachraum geworden.
(Veröffentlicht am 21.11.2020)1. Ziele des vorliegenden Papiers
Bei diesem Papier handelt es sich um eine Aktualisierung des entsprechenden Vorgängerpapiers von 2003. Die kontinuierliche Weiterentwicklung eines gemeinsamen Beratungsverständnisses dient der Profilbildung professioneller Beratung wie auch der Qualitätssicherung und dem Verbraucher*innenschutz. Im Folgenden wird daher von der DGfB ein verbändeübergreifendes Beratungsverständnis formuliert, das auch zur Gewährleistung gemeinsamer Standards dienen soll. Dieses Beratungsverständnis verbindet unterschiedlichste Professionen, Tätigkeitsfelder, Aufgaben, Konzepte und Interventionsformen. Es geht davon aus, dass verschiedene Institutionen im Hinblick auf die Anliegen der Ratsuchenden kooperieren.2. Beratung im Kontext reflexiver Modernisierung
Wir leben in einer Gesellschaft, deren Akteure (Einzelne, Familien, Vereinigungen, Organisationen, Unternehmen etc.) mit hohen Anforderungen und Ansprüchen konfrontiert sind (Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung, gesellschaftliche Spaltung, Klimawandel). Dies verlangt von ihnen, sich mit sich selbst, ihren Beziehungen und ihrer Position in der Gesellschaft auseinander zu setzen, Entwicklungen zu beobachten und sich zu ihnen zu verhalten sowie Konsequenzen für das eigene Leben und Handeln zu ziehen. Diese Entwicklung ist in der Soziologie als „reflexive Modernisierung“ bezeichnet worden (Beck et al. 1996). Um Menschen zu unterstützen, den Herausforderungen der modernen Gesellschaft gerecht zu werden, hat sich Beratung zu einer gängigen und erfolgreichen Praxis für alle Lebens- und Arbeitsbereiche entwickelt. Sie stützt und begleitet dabei die Entwicklung von Menschen, Organisationen, Unternehmen und Projekten und ist zu einer eigenständigen Profession und festen Institution der modernen Gesellschaft geworden. Daraus sind Konsequenzen zu ziehen. Beratung in der gegenwärtigen Gesellschaft ist wesentlich eine reflexiv ausgerichtete Beratung (Seel 2014). Sie kann den gesellschaftlichen Akteuren dabei helfen, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen, Erfahrungen, Beziehungen und Vernetzungen zu reflektieren. Jenseits rein informatorischer Beratung machen sich bei einer reflexiven Beratung die Ratsuchenden mit ihren sozialen und gesellschaftlichen Bezügen selbst zum Gegenstand prüfender Betrachtung. Beratung in diesem Sinne reicht also über die Selbstreflexion hinaus und reflektiert in professioneller und wissenschaftlicher Weise auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Dabei orientiert sich eine reflexive Beratung an Menschen- und Grundrechten sowie den Erfordernissen von Gerechtigkeit und Partizipation.3. Handlungsfelder, Aufgaben und Ziele von Beratung
Beratung kann sich sowohl auf Personen und Gruppen in ihren lebens- und arbeitsweltlichen Bezügen als auch auf Organisationen beziehen. Sie befasst sich auf einer theoriegeleiteten Grundlage mit unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben und multifaktoriell bestimmten Problem- und Konfliktsituationen. Beratung stellt sich Anforderungen z.B. aus den Bereichen Erziehung und Bildung, Sozial- und Gemeinwesen, Arbeit und Beruf, Familie und Partnerschaft, Wohnen und Freizeit, Gesundheit und Wohlbefinden, Ökologie und Technik, Pflege und Rehabilitation, Ökonomie und Politik. Beratung erfolgt prinzipiell freiwillig, aber ist eingebunden in institutionelle, rechtliche, gesellschaftliche, ökonomische, kulturelle und (berufs-)ethische Rahmenbedingungen, innerhalb derer die anstehenden Aufgaben, Probleme und Konflikte dialogisch bearbeitet und geklärt werden. In sozialrechtlichen Handlungsfeldern ist es möglich, dass Beratung auch in unfreiwilligen oder halbfreiwilligen Kontexten (z.B. der Sozialen Arbeit) stattfindet Beratung folgt hierbei einem reflektierten sozialwissenschaftlich und interdisziplinär fundierten Verständnis, das tätigkeitsfeld- und aufgabenspezifisch ausdifferenziert wird. Diesem Verständnis folgend, ist Beratung subjekt-, anliegen- und kontextbezogen sowie kultursensibel. Sie erfordert als soziale Dienstleitung eine gemeinsame Anstrengung und Leistung aller Beteiligten (Berater*in/ Beratene und ggf. Kostenträger) und klare Zielvereinbarungen. Ein Ergebnis des Beratungsprozesses ist nur kooperativ mit den Ratsuchenden erreichbar. Abhängig von den Anforderungen, Problemlagen und Krisensituationen, in denen sich die Ratsuchenden befinden, kann Beratung Ressourcen aktivierend, gesundheitsfördernd, präventiv, kurativ oder rehabilitativ ausgerichtet sein. Beratung unterscheidet sich durch die Einbettung in die Lebenswelt und Arbeitswelt der Ratsuchenden von reiner Informationsvermittlung und etabliert sich als eigenständiges Handlungsfeld neben etwa Mediation, Rechtsberatung oder Psychotherapie (als heilkundliche Behandlung entsprechend PsychThG und HPG). Beratung findet in unterschiedlichen Organisationen formalisiert und halbformalisiert statt. Sie wird einerseits in speziellen, formalisierten Beratungsinstitutionen (unter öffentlicher oder freier Trägerschaft) oder in selbstständigen Praxen bzw. multiprofessionellen Praxisgemeinschaften durch einzelne Berater*innen oder in Teams von mehreren Berater*innen angeboten. Andererseits erfolgt Beratung halbformalisiert als Teilaufgabe vielfältiger sozialer und pädagogischer Handlungsfelder (Tür- und Angel-Beratung, Krisen- und Konfliktgespräche in der Sozialen Arbeit, Embedded Counseling, Bildungspartnerschaft von Elternhaus und Schule etc.). Die jeweiligen Tätigkeitsfelder bzw. Aufgabenbereiche von Beratung sind gekennzeichnet durch:- unterschiedliche psycho-soziale Aufgabenbereiche, z.B. Entscheidungsfindung, Bewältigungshilfe bei Problemlagen und Krisen, Risikoprävention, Entwicklungsförderung
- unterschiedliche Beratungskonstellationen, B. Einzel-, Paar-, Familien-, Gruppen-, Teamberatung, Beratung in Nachbarschaft und Gemeinwesen, Supervision, Organisationsberatung
- unterschiedliche Beratungssettings, wie face-to-face Beratung, Telefon- oder Onlineberatung
- unterschiedliche Beratungsfelder, B. Erziehungs-, Partnerschafts- und Familienberatung, Lern-, Bildungs- und Berufsberatung, Schwangerschaftskonfliktberatung, Suchtberatung, Migrationsberatung, Schuldner*innenberatung, Coaching, Supervision und Organisationsberatung
- Beratung integriert verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und ‚Schulen‘, die sich in verschiedene Beratungsansätze und –verfahren Deren Vielfalt spiegelt sich in den Mitgliedsverbänden der DGfB wider.
- soll eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Ratsuchendem und Beratenden hergestellt das jeweilige Anliegen geklärt werden
- sollen erreichbare Ziele definiert und reflektierte Entscheidungen gefällt werden,
- sollen verdeckte Aufträge und Auftragsgeber*innen, wie auch problemevozierende gesellschaftliche Zwänge und Strukturen erkannt und reflektiert werden,
- sollen persönliche, soziale, Organisations- oder Umweltressourcen identifiziert und genutzt werden, um dadurch selbst gesteckte Ziele erreichen oder Aufgaben gerecht werden zu können,
- soll eine Unterstützung gegeben werden beim Umgang mit nicht behebbaren nicht auflösbaren Belastungen
- sollen Perspektivwechsel angeregt und Handlungspläne entworfen werden, die den Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten des Individuums, der Gruppe oder Organisation
4. Beratungsbeziehung und Beratungsethik
Auf der Grundlage einer professionellen Beratungsbeziehung fördern die Berater*innen das verantwortungsvolle Handeln einzelner Personen und Gruppen in individuellen, partnerschaftlichen, familialen, beruflichen, sozialen, kulturellen, organisationalen, sozialökologischen und gesellschaftlichen Kontexten. Beratung erfolgt auf der Grundlage eines rechtlich geschützten Vertrauensverhältnisses (Schutz des Privatgeheimnisses und Datenschutz). Die Vertrauensbeziehung zwischen Berater*in und ratsuchender Person ist durch entsprechende gesellschaftliche Regelungen zu schützen. Die (noch nicht in allen Bereichen etablierte) Einräumung des Zeugnisverweigerungsrechts für alle Berater*innen ist ein unerlässlicher Bestandteil zur vollständigen Sicherung des Vertrauensverhältnisses. Ausnahmen bestehen gegenwärtig u.a. in Beratungskonstellationen, die verpflichtend sind und mit Sanktionen einhergehen können. Die berufs- und beratungsrechtlichen Kenntnisse sind integrale Bestandteile des fachlichen Handelns. Das Handeln der Beratenden basiert auf ethischen Standards.5Die Mitgliedsverbände der DGfB haben jeweils eigene berufsethische Standards. Dies betrifft zum Beispiel die in der Beratungsbeziehung entstehenden Abhängigkeiten, mit denen sorgsam und verantwortungsvoll umzugehen ist. Die fortlaufende Analyse und Reflexion der Beziehungen, Verhaltensweisen und Interaktionen im Beratungsprozess sind wesentlicher Bestandteil von Beratung. Beratung wird in persönlicher, sozialer und rechtsstaatlicher Verantwortung ausgeübt und orientiert sich handlungsleitend am Schutz der Menschenwürde. Sie unterstützt emanzipatorische Prozesse und Partizipation und thematisiert damit auch Spannungsfelder, Machtverhältnisse, Konflikte und Abhängigkeiten in unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbereichen. Dabei werden insbesondere auch geschlechts-, generationen- und kulturspezifische Aspekte berücksichtigt. Ratsuchende werden bei der Reflexion von Erfahrungen und Erlebenszusammenhängen unterstützt. Das Bewusstsein für die persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Anforderungen, Probleme und Konflikte soll gestärkt werden. Fragen zur persönlichen Identitätsbildung und zur Entwicklung von Sinnperspektiven finden hier ebenso Platz wie die Bearbeitung akuter Belastungssituationen. Berater*innen haben eine Fürsorge für sich selbst zu tragen und bedürfen in Zeiten zunehmender sozialer Konfliktpotentiale zugleich des besonderen Schutzes durch die jeweilige Institution.5. Qualifikation professioneller Berater*innen6An dieser Stelle wird verwiesen auf die „Essentials einer Weiterbildung Beratung/ Counseling“ der DGfB.
Professionell zu verantwortende Beratung wird durch die Berater*innenpersönlichkeit und eine wissenschaftlich fundierte Aus- und Weiterbildung gesichert. Dabei soll die persönliche, soziale und fachliche Identität und Handlungskompetenz der Beratenden im Mittelpunkt stehen. Je nach Aufgabenstellung und Kontext, Anwendungs- oder Tätigkeitsfeld werden persönliche Erfahrungen und subjektiv geprägte Sichtweisen und Erlebenszusammenhänge der Ratsuchenden auf der Grundlage theoretisch fundierten Beratungswissens reflektiert. Hierzu sind insbesondere auch kommunikative und dialogisch-reflexive sowie problemlösungsorientierte Kompetenzen erforderlich. Bei entsprechenden Fragestellungen sind ergänzend fachlich fundiertes Feldwissen (Informationen) und wissenschaftlich fundierte Phänomenerklärungen (Expert*innenwissen) hilfreich bis unabdingbar. Je nach Tätigkeitsfeld und Beratungskontext kann sich das Beratungswissen auf Bereiche der Psychologie, der Soziologie, der Erziehungswissenschaft und Pädagogik, der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, der Theologie, der Pflege, des Rechts, der Ökonomie, der Betriebswirtschaft, der Medizin, der Psychiatrie etc. beziehen. Expert*innenwissen kann durch den*die Berater*in selbst oder in interdisziplinärer Kooperation mit entsprechenden Fachkräften in den Beratungsprozess eingebracht werden. Inhalte der Aus- und Weiterbildung sind:- Theorie und Methodik von Beratungsansätzen und -haltungen, differentieller Diagnostik, kontextgebundener Einzel- und Gruppenberatung, Entwicklungs- und Hilfeplanung und Verfahren der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung
- dokumentierte, eigenständig durchgeführte Beratungspraxis, die konzeptgebunden (selbst-) evaluiert wird
- dokumentierte und (selbst-)evaluierte Praxis von Vernetzung und Kooperation bzw. Teamteilnahme in interdisziplinären Zusammenhängen und in Beratungseinrichtungen / Institutionen
- Praxisreflexion / Supervision einzeln und in Gruppen; kollegial gestaltete Supervision
- Persönlichkeitsbildung (einzeln und in der Gruppe)
- Selbst- und Fremdwahrnehmung (Selbsterfahrung und Selbstreflexion)